Dass Schriftsteller:innen sich zur Poetologie äußern hat eine lange Tradition, neu ist jedoch die steigende Quantität dieser Praxis. Die Produktion von Epitexten, in denen Schriftsteller:innen über ihr eigenes Schaffen Auskunft geben und über Genese und Poetik ihrer und anderer Texte reflektieren, gehören mittlerweile zum guten Ton literarischer Selbstpräsentation und ist nicht zuletzt den ökonomisch interessierten Anfragen des Literaturbetriebes geschuldet, denen sie Autor:innen kaum noch entziehen können. Zu diesen institutionalisierten Anfragen zur poetologische Selbstlektüre gehören Stadtschreiberposten, Writer-in-Residence, Dankesreden oder Einladungen in den diversen Literaturhäuser, allem voran aber Poetikvorlesungen. Seit der Einrichtung der ältesten und wohl auch (international wie national) bekanntesten an der Universität Frankfurt am Main 1959 bieten mittlerweile über 30 deutsche Universitäten Poetikvorlesungen an. Mit ihrer Masse und Prominenz wächst auch das literaturwissenschaftliche Interesse an diesen Texten. In den letzten zwei Jahrzehnten werden die Poetikvorlesungen und mit ihnen die große Bandbreite poetologischer Reflexionen nicht nur als Steinbruch für die literaturwissenschaftliche Deutung literarischer Texte herangezogen, sondern als eigener Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft wahrgenommen. Das SE versteht sich als Einstieg in die Thematik und versucht unter Berücksichtigung unterschiedlicher Orte oder Institutionen, an denen Poetikvorlesungen gehalten wurden, in seiner Textauswahl einen historischen und thematischen Querschnitt: Autor:innen dozieren über die Bedingungen der Möglichkeit des Ich-Sagens und über Fragen der Autorschaft (z.B. Ingeborg Bachmann und Thomas Meinecke), sie reflektieren als mehrsprachige Autor:innen über den Raum zwischen den Sprachen (z.B. Yoko Tawada), beobachten die Verwebung von Leben und Schreiben (z.B. Paul Nizon), unternehmen eine kritische Auseinandersetzung mit den Medien, dem Buchmarkt und der Literaturwissenschaft vor (z.B. Felicitas Hoppe), geben Einblicke in die eigene Schreibwerkstatt (z.B. Sten Nadolny) und die intertextuellen Bezüge des eigenen Werkes ( z.B. Uwe Timm) und befragen die ethische Verantwortung des Schreibens (z.B. Sibylle Lewitscharoff).Die Untersuchung der Frage, wie sie das tun, d.h. die enge Verschränkung von Form und Inhalt in den Poetikvorlesungen, evoziert dabei immer auch eine Frage nach dem Selbstverständnis der Literaturwissenschaft und der ihr eigenen Analyse- und Darstellungsmethoden.Als Seminarleistung werden neben der vorbereitenden Lektüre und aktiven Teilnahme ein kurzer inhaltlicher Beitrag (etwa in Form eines Impulsreferates oder eines Sitzungsprotokolls oder eines thematischen Essays) erwartet.
Eine ausführliche Literaturliste sowie Textauszüge aus Primär- und Sekundärliteratur werden zu Beginn des Seminars auf Moodle bereitgestellt und sukzessive nach Bedarf ergänzt.Zur ersten vorbereitenden Lektüre: Ingeborg Bachmann: „III. Das schreibende Ich“ + „IV. Der Umgang mit Namen“, in: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung (1982), 41-78. Zur Einführung: Galli: „The Artist is Present. Das Zeitalter der Poetikvorlesungen“, in: Merkur 776 (2014), 61–65; Bohley: „Dichter am Pult: Altes/Neues aus Poetikvorlesungen 2000–2015“, in: Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000–2015 (2017), 243-254.
Die Veranstaltung wurde 3 mal im Vorlesungsverzeichnis SoSe 2025 gefunden: