Jacques Ranciére zufolge ist Realismus nicht die Abbildung von Wirklichkeit, sondern die Behauptung von Gleichheit: „Die Demokratie des realistischen Romans ist die Musik der gleichen Fähigkeit eines jeden Menschen, jede Art von Leben leben zu können.“ Seine Entstehung verdankt der Realismus demnach den großen Emanzipationsbewegungen im 19. Jahrhundert und ihrem Menschenrechtsuniversalismus. Es ist die Fiktion der Gleichheit aller Menschen, die im realistischen Roman ein demokratisches Gespräch erzeugt. Erst in der Aushandlung verschiedener Perspektiven entsteht dabei jene Objektivität, hinter der sich nur in seltenen Fällen ein auktorialer Überblick verbirgt.Diese Affinität von Realismus und Demokratie ist heute von Neuem bedenkenswert. Die historische Szene, in der das Verhältnis von literarischem Realismus und demokratischer Repräsentation in besonderer Weise auf dem Spiel stand, ist die Revolution von 1848. Wie Christopher Clark in Frühling der Revolution (2023) zeigen konnte, handelte es sich bei dieser Revolution um ein europäisches Ereignis, während dessen Formen und Verfahren politischer Repräsentation noch nicht festgeschrieben waren, sondern ausgehandelt wurden. Parallel dazu wurde auch poetologisch verhandelt, wer in der Literatur überhaupt eine Stimme hat, etwa in den Kontroversen um den „Roman des Nebeneinander“ (Gutzkow).Das SE sondiert das Verhältnis von literarischer und politischer Repräsentation um 1848 und liest hierzu Auszüge theoretischer und literarischer Schlüsseltexte: von Berthold Auerbachs Poetik Schrift und Volk (1846) über Louise Astons Autobiografie Meine Emancipation (1846), Karl Gutzkows Romanprojekt Die Ritter vom Geiste (1850) und Fanny Lewalds Revolutionsnovelle Auf rother Erde (1850) bis zu Gustav Freytags Komödie Die Journalisten (1852) und August von Rochaus Grundsätze der Realpolitik (1853). Begleitend soll auch ein Blick in die Frankfurter und Berliner Parlamentsdebatten von 1848 sowie in neuere Forschungsliteratur zum narrativen Problem der Multiperspektivität, zum peripheric realism (Joe Cleary) und zum agonalen Perspektivismus (Marcus Twellmann) geworfen werden.Arbeitsleistung: Impuls-Referat oder Thesenpapier
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