Kommentar |
"Lange Linien, krumme Kreise, Figuren, da steckt's! da! Wer das lesen könnt!" Wenn Woyzeck seine Irritation über die Pilzringe, die über Nacht aus dem Boden schießen, ins Bild vom unentzifferbaren Schriftzug im Buch der Natur fasst, greift Büchner auf Vorläufer in der ältesten Kunst zurück. Sie erinnern an die Signaturen, die vormodernes Erzählen aus dem ordo naturalis seiner epischen Stoffe herausarbeitet oder ihnen einschreibt. Knoten, Bänder, Schlingen und Schleifen bilden dabei die verwickelten Kontinuen des ordo artificialis, die nur einer geübten Einbildungs- und ästhetisch erfahrenen Urteilskraft nachvollziehbar sind. Sie ermöglichen strukturell, das Unbegreifliche darzustellen: die Verknüpfung einander fremder Räume (etwa durch Heimkehrer- oder Brautwerbungserzählungen); die Kommunikation zwischen der Welt der Lebenden und der Anderwelt der Toten (in Anderweltszenarien des Erzählens von Artus); Auswege aus aporetischen Sackgassen der Genealogie und der Erbfolge (im Gralsroman); Positionsvertauschungen in Erzählfolgen, die es erlauben, Geschichte antichronologisch zu refigurieren (in Chroniken) oder Aventiuren von vorne auf ihre Akteure zukommen und sie zugleich von rückwärts einholen zu lassen. Heterotope und heterochrone Baupläne bilden die Muster vormoderner Epik von den frühesten überlieferten Beispielen (Homer, Hesiod) an. Sie dienen zunächst als basale Schemata dem Bewältigen lebensweltlicher Kontingenz durch Reduktion von Komplexität, sorgen jedoch zugleich durch Wiederholung, Spiegelung, Serialisierung bzw. durch Kombination, Permutation und Transformation mit weiteren motivischen Schablonen für kompositorische Komplexitätssteigerungen. Hinzu kommen formale Muster der Wahrnehmens und Deutens, die auf der Basis von Positionstausch oder der Inversion von Grund und Figur jede empirische Erfahrung und Erwartung von Raum und Zeit umwälzen und intensivieren. Die VL wird derartige "Textmuster an Mustertexten" (Eleonore und Hans Jost Frey) vorstellen und detailliert durchspielen, um den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein Gespür für die Plastizität und Fluidität des Gebrauchs exemplarischer Schemata zu vermitteln. Die Beispiele stammen vornehmlich aus den Bereichen der großen und kleinen Epik des Mittelalters. Sie führen zu Kontexten der Medialität im Manuskriptzeitalter (und seiner Rezeption z. B. im modernen Film) sowie der zeitgenössischen technischen Praxis (etwa der Heraldik und ihrer Auflösung der Differenz von Grund und Figur in der Operation der mise en abyme), die der Poetik des Schematisierens entgegenkommt. |