Die Wissensgeschichte der Utopie und ihrer Poetik beginnt bei der Entdeckung des Nicht-Wissens. Denn Utopien sind Schlusssteine von Topiken (Wilhelm Schmidt-Biggemann). Sie geben den Bogen- oder Gewölbearchitekturen der Wissenssysteme halt, indem sie in die Lücken des positiven Wissens eingepasst werden. Als narrative Exempla bilden sie tragende Elemente in der epistemischen Gesamtstruktur, um so das Sokratische "Ich weiß, dass ich nichts weiß" operationalisierbar zu machen. Sie visieren die Ordnung der Dinge und ihre Benennung an und machen die Bedingung und Grenze des Wissens in der unüberbrückbaren Kluft zwischen res und verba sichtbar. Durch Darstellung jener Kluft geben sie der Umwertung aller geltenden realistischen oder nominalistischen Zuschreibungen und Bewertungen dadurch Raum, dass sie im Rahmen eines topographischen Polis-Modells Argumente, Formeln, imaginäre Verdichtungen und intensive Affektbesetzungen um das leere Zentrum des Wissens anordnen. Über einer solchen Wissenslücke sind sämtliche Städte konstruiert, deren Auf- und Abbau wir in unserem Seminar analysieren werden: Platons Atlantis (aus den Dialogfragmenten des 'Timaios' und des 'Kritias'), Thomas Morus' Utopia (1516), das Städtchen Laleburg des anonymen Verfassers des 'Lalebuchs' (1597) und Christines de Pizan Stadt der Frauen (1404/05). Während die ersten drei Modelle einen Rezeptionsstrang satirisch geprägter Antworten auf Platons 'Politeia' bilden, fällt Christines 'Livre de la Cité des Dames' aus der Reihe. Sie bezieht sich auf eine andere Texttradition, die über Ovid, den 'Roman de la Rose' und Boccaccio auf die klerikal geprägte Frauenschelte reagiert. So lokalisiert sie den blinden Fleck, aus dem ein neuartiges Gebäude der Tugenden und Sitten erbaut werden soll, entschieden an einer anderen, bis dato übersehenen Stelle: im Nicht-Wissen der Männer über das Wesen der vorbildlichen Frauen.
Platon: Timaios. Griechisch/Deutsch, Übers., Anm. u. Nachw. v. Thomas Paulsen u. Rudolf Rehn, Stuttgart: Reclam / Thomas Morus: Utopia. Lat./Dt., Übers. v. Gerhard Ritter, Nachw. v. Eberhard Jäckel, Stuttgart: Reclam / Das Lalebuch. Studienausgabe, hrsg. v. Stefan Ertz, Stuttgart / Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen, hrsg. u. übers. v. Margarete Zimmermann, Berlin: Aviva 2023.
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