Kommentar |
Migrationsforschung trägt oft dazu bei, Migration zum gesonderten Problemfeld am Rand der Gesellschaft zu machen. Das geschieht durch einen allzu exklusiven Fokus auf Migration und Migrant*innen – die dann oft als „Andere" der Gesellschaft erscheinen. So lautet eine der selbstkritischen Diagnosen, die im Rahmen der Debatte über eine „postmigrantische" Gesellschaft, u.a. am Labor Migration unseres Instituts, formuliert wurden. „Postmigrantisch" meint dabei, dass die scheinbar klaren Grenzen zwischen „fremden Migrant*innen" und „deutschen Einheimischen", wie sie oft in Forschung und Politik behauptet werden, in Frage gestellt werden. Stattdessen ist die Gesellschaft, auch in ihrer Mitte, durchdrungen von Migrationsprozessen, und viele der zu Migrant*innen gemachten Menschen sind hier geboren, also eigentlich ihrerseits „Einheimische". Die strikte Trennung in „deutsche Mehrheit" und „zugewanderte Minderheiten" macht nur in der Fiktion des Nationalstaats Sinn, nicht aber in der gelebten Wirklichkeit. Postmigrantisch kann also die Gesellschaft genannt werden, an der wir alle, ob nun mit eigener Migrationsgeschichte oder nicht, beteiligt sind.
Eine der Forderungen, um die „migrantologische" Schieflage der Migrationsforschung zu überwinden, ist, nicht mehr Migrant*innen zum exklusiven Forschungsobjekt zu machen, sondern die Gesellschaft durch die Linse der Migration zu betrachten. Migration müsste also – ähnlich wie Gender – zu einer Querschnittsperspektive werden, die in allen sozialwissenschaftlichen Forschungsdesigns Einzug halten sollte. Was bedeutet das? Wie lässt sich diese Forderung einlösen? Gibt es Beispiele dafür? Können wir postmigrantische Lesarten entwickeln, mit der wir relevante Forschungsliteratur, insbesondere Ethnographien, neu auswerten, ihnen neue Einsichten abgewinnen können? Können wir auch selbst kleine ethnographische Beobachtungen – Vignetten – mit postmigrantischem Blick entwerfen?
Das ist das Thema, sind die Fragen des Seminars. Wir werden zunächst, in einem ersten Drittel, die postmigrantische Debatte und ihre unterschiedlichen Positionen anhand von Schlüsseltexten kennenlernen und diskutieren. Daraus werden wir Kriterien herausarbeiten, die postmigrantische Perspektiven auszeichnen, um diese Kriterien dann, im mittleren Teil des Seminars, an Ethnographien heranzutragen und so deren ex- oder impliziten postmigrantischen Gehalt zu analysieren und zu reflektieren. Was sagen Ethnographien, die vielleicht gar nicht unmittelbar oder aber primär auf Migration ausgerichtet sind, über das Verhältnis von Migration und Gesellschaft aus? In einem dritten und letzten Teil des Seminars können sich alle an eigenen kleinen ethnographischen Entwürfen versuchen. Die individuellen Erträge und Erkenntnisse aus dem Seminar können so in eigenen Vignetten ausprobiert werden, die nicht nur Texte, sondern gerne auch multimodale Formate umfassen können.
Leistungsanforderungen
* Anwesenheit und aktive Teilnahme
* 1 Positionspapier zu einem theoretischen Text
* 1 Ethnographie ganz (!) lesen und im Seminar aus postmigrantischer Perspektive vorstellen; die Diskussion dazu mit eigenen Fragen und Kritik anregen
* 1 ethnographische Vignette entwerfen und im Seminar vorstellen |
Literatur |
Grundlagenliteratur (für diejenigen, die sich tiefer einlesen möchten, Auszüge werden im Seminar behandelt)
2014 (mit Labor Migration): Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung. Berlin: Panama.
2015 Erol Yildiz & Marc Hill (Hg.), Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld: transcript.
2018 Naika Foroutan, Juliane Karakayali & Riem Spielhaus (Hg.), Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt a.M., New York: Campus.
2018 Marc Hill & Erol Yildiz (Hg.), Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Bielefeld: transcript.
2021 Anna Meera Gaonkar et al. (Hg.), Postmigration. Art, Culture, and Politics in Contemporary Europe. Bielefeld: transcript. |