Seit längerem wird in verschiedenen disziplinären Kontexten, aber auch in Literatur und anderen Künsten über Konzepte, Methoden und Praktiken des Archivierens diskutiert. Diese Auseinandersetzung knüpft vielerorts an feministische, gender- und queertheoretische Ansätze an. Das gewachsene Interesse an Archiven – ihren Praktiken, Politiken und Poetiken – hat verschiedene Hintergründe: auf der einen Seite spielen aktuelle Entwicklungen in den Daten- und Wissensstrukturen eine Rolle (Stichwort ‚Digitalisierung‘ und ‚Datenexplosion‘), auf der anderen Seite eine wachsende Aufmerksamkeit für Kanonisierungsfunktionen, Machtverhältnisse und Leerstellen von Archiven. Berührt sind die Grundfunktionen von Archiven – Speichern und Wegwerfen, Suchen und Finden – ebenso wie verschiedene Archivformate: Staats- und Universitätsarchive, Literatur- und Wissensarchive. Auf entsprechende Debatten und Desiderate reagieren sowohl Archivtheorie und Archivpraxis (z.B. durch ‚Gegenarchive‘) als auch alternative ‚Archiverzählungen‘.Das Seminar wird sich dieser Debatte aus literaturwissenschaftlicher und kulturanthropologischer Perspektive nähern, dabei einen besonderen Fokus auf Gender richten. Wir werden – nach der Einführung in aktuelle Archivdebatten – zunächst dem Zusammenhang von Archiv und Erzählen nachgehen (Erzählen aus dem Archiv, Erzählen über das Archiv) und uns dann vor allem Gegenarchiven und Gegenerzählungen widmen, die in Theorie, Literatur und Praxis Archive und das Archivieren kritisch reflektieren, zu verändern und zu erweitern suchen. Dazu zählen historiographische Arbeiten von Saidiya Hartman und Michel Foucault, die nach den systematischen Lücken im Archiv ebenso fragen wie nach den spekulativen Möglichkeiten ihrer Aufarbeitung; dazu zählen literarische Texte z.B. von Alexander Kluge und Judith Schalansky mit ihren alternativen Archiverzählungen; dazu zählen z.B. queere Gegenarchive oder Erzählcafés mit ihrer ‚anderen‘ Gedächtnisarbeit. Zudem soll das archivalische Wissen nicht-sprachlicher Objekte (Textilien, Erinnerungsobjekte, Mahlzeiten usw.) thematisiert werden.
Saidiya Hartman: „Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)“, Berlin 2022Michel Foucault: „Das Leben der infamen Menschen“, 1977Judith Schalansky: „Verzeichnis einiger Verluste“, Berlin 2018Mathias Danbolt et al. (Hg.): “Lost and found: queerying the archive”, Copenhagen 2009
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